Die gesunde Vorwärtsbeuge

Jeder hat es schon mal gehört: “Mit der Einatmung nochmal ganz lang machen und dann mit geradem Rücken nach vorne falten.” Aber warum machen wir das so? Was hilft uns dabei und wann darf man auch mal eine Ausnahme machen? Eine Erklärung

Der hintere Oberschenkel

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Die Dehnung des hinteren Oberschenkels ist meist aus sportlicher Sicht das primäre Ziel der Vorwärtsbeugen. Natürlich können wir sie auch nutzen, um uns und unser Nervensystem zu beruhigen oder um sanft mit den Schultern zu arbeiten, aber das ist eher die Ausnahme.

Im Detail sieht der hintere Oberschenkel so aus, dass vier Muskeln am Sitzbeinhöcker entspringen und am oberen Ende des Schienenbeins ansetzen. Dabei kann er durch Kontraktion sowohl die Hüfte strecken als auch das Knie beugen, da er beide Gelenke umschließt. Wer das auf Deutsch weiter nachlesen möchte, such nach ischiocuraler Muskulatur; auf Englisch ist es einfacher, da wird es zum “hamstring” zusammengefasst.

 

Die Vorwärtsbeuge im Sitzen (Paschimottanasana)

Setz dich mit geradem Rücken hin, die Knie sind locker gebeugt. Dabei zeigt der untere Rücken mindestens gerade nach oben, vielleicht sogar etwas nach vorne. Wenn du dir unsicher bist, ob der untere Rücken das tut, setze dich gegen eine Wand. Du zieht die Knie soweit zu dir heran, dass der Bauch und die unteren Rippen den Oberschenkel berühren und umgreifst mit den Händen oder einem Gurt die Füße. Nun wandern die Füße Stück für Stück von dir weg, während du den Kontakt von Bauch und Oberschenkel behälst. Es hilft, wenn die Matte oder der Boden unter deinen Füßen nicht allzu griffig ist. Wenn du an deiner Grenze angekommen bist, baue eine leichte Gegenspannung auf, das heißt, du stellst dir vor, dass du die Fersen leicht in den Boden drückst oder das Knie sanft stärker beugst. Probiere hierbei aus, welche Vorstellung für dich besser funktioniert. Bei dieser Herangehensweise ist es wahrscheinlich, dass du deine Knie nicht vollständig strecken kannst. Gerade anfangs kann es auch schwierig sein, mit dem neuen Ansatz die gleiche Dehnungsintensität zu erreichen, da der Körper erst lernen muss, die Dehnung aktiv aus den Muskeln zu erarbeiten. Gib dir mit beiden Aspekten Zeit, solange du die Dehnung spürst, passiert die Arbeit.

 

Die Technik im Detail

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Durch den Kontakt von Oberschenkel und Hüfte bringen wir das Hüftgelenk in die maximal gebeugte Position, wodurch die Muskeln an diesem Ende schon in ihre maximale Länge gebracht werden. Von da aus kontrollieren wir die Dehnung, indem wir das andere Ende der Muskeln, nämlich die Stelle kurz unterm Knie, wegbewegen. Das heißt, die Hüfte ist das fixierte Element und das Knie das bewegte. Bei der klassischen Technik ist es genau umgekehrt. Wir setzen uns mit gestreckten Knien auf den Boden, das Knie ist also fixiert. Nun ziehen wir den Oberkörper nach vorne, dadurch beugt sich die Hüfte und dieses Ende der Muskeln wird bewegt. Was bringt es also jetzt, das fixierte und bewegte Element der Dehnung zu tauschen?

Zunächst verbessert sich für die meisten Menschen die subjektive Empfindung der Dehnung. Eine Dehnung sollte immer in der Mitte des Muskels zu fühlen sein, nicht in den Sehnen oder gar in den beteiligten Gelenken. Im klassischen Fall zieht es schnell mal auch auf der Rückseite des Knies, gerade wenn das Knie hypermobil ist, also von Natur aus leicht überstreckt werden kann. Dem wird entgegengewirkt, weil das Knie nur in die volle Streckung kommt, wenn man es bis in die tiefste Ausführung der Pose schafft. Auch wird die Dehnung einfacher, weil das Becken schon in die richtige Richtung zeigt. Auf der Skizze im Sitzen ist das Becken neutral nach oben gerichtet. Wenn in der Haltung auch nur ein bisschen nach vorne kippt, dann zieht die Gravitation das Becken in Richtung der Dehnung und hilft so mit.

Aus gesundheitlicher Sicht ist die Schonung des unteren Rückens der wichtigste Vorteil. Wenn er auf den Beinen aufliegt, können wir ihn nicht so stark beugen und die Bandscheiben werden geschont. Auch können wir uns nicht wie bei der klassischen Technik selbst betrügen, indem wir nicht die Hüfte beugen, was stärker dehnen würde, sondern den Rücken runden. Den unteren Rücken auch mal aktiv zu runden, ist im übrigen für die meisten Menschen nicht schlimm, sondern sogar durchaus sinnvoll. Aber es ist wichtig, die Schmerzsignale des Körpers zu bemerken und es kann schnell passieren, dass der Oberschenkel so viele Reize weitergibt, dass die Information des unteren Rückens in der Wahrnehmung untergeht.

Ein weiterer Aspekt ist die Verletzlichkeit des Oberschenkels selbst. Eine der wenigen häufigen Verletzungen beim Yoga sind Zerrungen der hinteren Oberschenkelmuskeln, meist am oberen Ende, dem Ursprung. Mit der beschriebenen Vorgehensweise ist das Risiko hierfür deutlich geringer.

Zuletzt zum oberen Rücken, oder der Frage: hängen lassen oder nicht hängen lassen? Eindeutige Antwort: Es kommt drauf an. Auf den unteren Rücken und die Hüfte nämlich. Sind die beiden schon recht weit nach vorne geneigt, die Dehnung also etwas weiter fortgeschritten, können oberer Rücken und Kopf loslassen und rund werden. Das hat dann oft sogar den Vorteil, dass der Körper mehr entspannen kann und die Dehnung noch besser klappt. Muss die Hüfte hingegen noch kämpfen, hilft der Hebel, der durch einen geraden Rücken entsteht, um in die richtige Richtung zu arbeiten.

Und Sonst So? Anwendung und Grenzen In anderen Haltungen

Auch in der stehenden Vorwärsbeuge (Uttanasana) ist es besser, die Technik so wie beschrieben anzuwenden. Denn hier kann die Schwerkraft sogar noch stärker an den Bandscheiben des unteren Rückens ziehen, also ist mehr Vorsicht geboten. Grundsätzlich gilt: Sei dir bewusst darüber, wo die Asana wirken soll und spüre, wo du die tatsächliche Wirkung fühlst. Wenn du neben der Dehnung im Oberschenkel auch noch eine Entspannung in den Schulterblättern bemerkst - sehr schön! Hast du hingegen ein Druckgefühl im Rücken oder ein Ziepen in den Knie, solltest du die Haltung ändern und im Zweifelsfall mal beim Yogalehrer deines Vertrauens nachfragen.

Jedoch ist es aus meiner Sicht nicht notwendig, in jedem Fall das Knie zum bewegten Element der Dehnung zu machen. Im halben Spagat (Ardha Hanumanasana) kannst du es dir wirklich frei aussuchen, entweder du ziehst das Knie heran oder du arbeitest von der Hüfte aus. Das ist das Tolle am Yoga, dass es eben nicht die eine, perfekte Form gibt, sondern jeder für sich die beste Variante finden kann.

Selbstverständlich gibt es auch Haltungen, in denen es eher nicht empfehlenswert ist, nach diesem Ansatz zu arbeiten. Hier fällt mir als erstes die Pyramide (Parsvottanasana) ein. Sie ist eine fortgeschrittene, etwas instabile Haltung, in der es wenig bringt, sie weiter zu destabilisieren, indem das vordere Knie angebeugt wird. Zumal das hintere Bein dazu beiträgt, dass das Becken ohnehin etwas nach vorn geneigt ist. Zusätzlich besteht die Schwierigkeit, dass die Hüfte parallel nach vorn zeigen sollte. Auch das wird schwieriger, wenn wir uns vom Knie aus bewegen. Hier kannst du also problemlos im klassischen Ansatz beide Knie gestreckt lassen und dich nach vorne beugen.

 

Zusammenfassung

Als zweigelenkiger Muskel haben wir beim hinteren Oberschenkel mehrere Möglichkeiten, wie wir ihn dehnen möchten, denn sowohl die Streckung des Knies als auch die Beugung der Hüfte strecken den Muskel. Bei manchen Haltungen, wie bei der beschriebenen Vorwärtsbeuge im Sitzen, ist es für viele hilfreich, die Dehnung durch die Beugung der Knie zu kontrollieren, statt wie üblich durch die Beugung der Hüfte. Bei anderen Haltungen kann es hingegen durchaus sinnvoll sein, von der Hüfte aus zu arbeiten. Das wichtigste ist jedoch: probiere es aus und fühle in dich hinein, was zur besten Dehnung führt. Du kannst auch beide Techniken in einer Haltung kombinieren. Viel Spaß beim Tüfteln!